„Was für ein Dilemma?“. Vortrag von Dr. Tamás Kanyo-Fischer am 03.04.2019

Bei der Veranstaltung „Was für ein Dilemma“ wurde die Veranstaltung nach einer kurzen Vorstellungsrunde und Begrüßungsworten in medias res mit der Lektüre des folgenden Textes begonnen:

„Jürgens Problem

Jürgen und „Kick“ sind gute Freunde. Kick heisst eigentlich Sebastian. Er wird aber Kick genannt, weil er oft andere tritt. Er ist auch oft mit anderen in Kämpfe verwickelt. Aber mit Jürgen hat er nie Probleme gehabt. Auch Jürgen mag ihn. Kick hat ihm schon oft gegen Stärkere beigestanden. Eines Tages sieht Jürgen, wie Kick einen jüngeren Schüler aus einer anderen Schule verprügelt und erst aufhört, als der ihm seinen Geldbeutel gibt. Kick rennt davon, bevor Jürgen etwas tun konnte. Am nächsten Tag kommt die Polizei mit dem beraubten Jungen in die Schule. Sie fragt, wer gesehen habe, wie der Junge verprügelt und beraubt wurde. Der Junge entdeckt Jürgen. Er deutet auf ihn und sagt, er habe Jürgen zusammen mi dem gesehen, der ihn überfallen habe und dass Jürgen den Überfall auch gesehen haben muss.

Der Polizist fordert Jürgen auf, den Namen des Tätes zu nennen, sonst würde er sich als Mitwisser strafbar machen. Jürgen verschweigt den Namen seines Freundes.“ (S. Georg Lind, Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, Oldenbourg Verlag, München, 2003, S. 139)

Danach wurde nach den Regeln und Vorgaben der „Konstanzer Methode der Dilemma Diskussion“ eine solche durchgeführt. Die Diskussion war lebendig, es gab viele interessante Beiträge. Die Gruppe war zudem in der Meinung über das Verhalten Jürgens ca. zur Hälfte gespalten, was eine gute Voraussetzung für eine kontroverse Diskussion war. Im Kern ging es um einen Loyalitätskonflikt. Bei einhelliger Meinung hätte eine andere Geschichte genommen werden können.

Hervorgehoben wurde bei der Anwendung der „Konstanzer Methode Dilemma Diskussion“ der Beitrag zum Problemlösungsfindungsprozess in einer bestimmten Situation, wichtig war auch der Hinweis der Methode für den grösseren Kontext puncto Entstehung, Hebung der Moralkompetenz und zur Demokratieförderung.

Dies sind offensichtliche Anknüpfungspunkte zur Pädagogik von Janusz Korczak, das dialogische Prinzip, die Offenheit des Resultats, und vieles Weitere implizieren den Teilnehmenden, welche auch Kinder und Jugendliche sein können, maximale Autonomie. Diese Parallelen wurden am Abend thematisiert, die Bezüge zu Korczaks Kameradschaftsgericht bzw. zur Kinderrepublik hervorgehoben.

Als Kritik wurde betont, dass es sich streng genommen bei der durchgeführten Dilemma Diskussion um eine Verbesserung der Kommunikationskompetenz in einer besonderen Situation handelt, (was mitunter auch einen autonomen Wert darstellen kann) aber für viele potentielle Teilnehmenden, besonders bei einer stark diversen Gruppenzusammensetzung keine positive Haltung an sich daraus gewonnen werden kann. Ähnlich dem kategorischen Imperativ Kants, der nur unter grundsätzlich ähnlich Gesinnter funktioniert, nicht aber „global“.

Als einen gewissen Zusatz zu diesem Problem, brachte der Moderator des Abends die Relevanz der Wertewahrnehmung zum Thema, welches sind die eigenen Prämissen, die für die Entscheidung beim Dilemma wichtig sind? Welche Werte sind für die Teilnehmenden wichtig? Wo werden diese Werte überhaupt bewusst wahrgenommen? Die Frage wurde aus mehreren Standpunkten vertieft – so auch auf dem Gebiet der Geschichtserzählung.

Geschichte – wie sie uns begegnet – als Text oder Bild und wie sie im Unterricht behandelt wird, ist immer eine starke Reduktion verschiedener Ereigniskomplexe auf Formen von Erzählungen. Ordnungsstiftende Faktoren (für die Erzählung) sind dabei sinngebende Komponenten, welche sich wiederum an Werten orientieren. Daher spielen Werte in der Bildung eine sehr relevante Rolle.

Als Beispiel – kurz vor Pessach – einer hier nicht allzu bekannten Auffassung diente das von den Founding Fathers, Thomas Jefferson und Benjamin Franklin, geplante Siegel (Wappen) für die USA, welches nur eine Skizze bleiben sollte, aber das Selbstverständnis , die Wertehaltung der Gründer sehr gut zum Ausdruck bringt. Die Gründung der USA als Reenactment der biblischen Geschichte vom Auszug Israels aus Ägypten (der Pharao entspricht King George III., Ägypten ist Grossbritannien, das Schilfmeer der Atlantik, das gelobte Land: USA. Dies bezeugt nicht zuletzt die Relevanz der Werte der Tora für den modernen Staat an sich (Menschenrechte, Gewaltenteilung, Republik). Eine gänzlich andere, der kontinentaleuropäischen fremden Einstellung zeigt das Motto, welches das Bild umrahmt: „Rebellion gegen Tyrannen ist Gehorsamkeit gegenüber Gott“. Der König von Frankreich oder der Zar von Russland regierten aufgrund eines „Gottesgnadentums“ sie und ihre Kontrahenten sahen in den Revolutionen die Zerstörung einer göttlichen Ordnung. Bei der Skizze aus den USA ist die Auffassung sehr anders. Das kann als Schritt zur Schaffung von Heimat gelten, insofern Heimat das ist, wo man sich zurechtfindet.