Wie trete ich Antisemitismus in muslimischen Milieus entgegen?
Wie nicht zuletzt seit Beginn des Gaza-Konflikts im Sommer 2014 deutlich wurde, ist der Umgang mit aktuellem Antisemitismus in Deutschland eine große gesellschaftliche und bildungspolitische Herausforderung und der Bedarf an Unterstützungsangeboten ist groß. Eine nicht erst seitdem diskutierte Frage ist, von wem in Deutschland der Antisemitismus ausgeht. Im Jahr 2013 befragte die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte europäische Juden und Jüdinnen zu Antisemitismus. Auf die Frage, welche Personen in den letzten 12 Monaten negative Aussagen über Juden getroffen haben, zeigt sich für die jüdische Community in Deutschland eine differenzierte Wahrnehmung: 48% der Befragten nannten „Jemand mit extremistisch muslimischer Orientierung“. Fast genauso viele, nämlich 47%, nannten „Jemand mit linksgerichteter politischer Orientierung“. Etwas weniger, 40 % der befragte Jüdinnen und Juden, nannten Personen mit rechtsgerichteter Orientierung als diejenigen, die sich in letzter Zeit antisemitisch geäußert hätten. In der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung ist dies hingegen weit weniger differenziert. Dort liegt der Fokus, wer in Deutschland sich antisemitisch äußert, nicht auf Personen „mit extremistisch muslimischer Orientierung“, sondern häufig pauschal auf „den Migranten“. Wenn von „Migranten“ im Zusammenhang mit Antisemitismus gesprochen wird, dann wird „migrantisch“ synonym zu „muslimisch“ verwendet. Es werden nicht EU-Ausländer_innen, Kanadier_innen oder Schweizer_innen als Träger von „migrantischem Antisemitismus“ imaginiert, sondern Menschen, die migrantische Bezüge zur Türkei oder zu arabischen Ländern haben und die gleichzeitig als „Muslime“ verstanden werden. Die unterschiedlichen Berichterstattungen verwendeten oft zudem willkürlich und unreflektiert die Schlagworte „muslimischer“, „islamischer“, „islamistischer“ Antisemitismus ,ohne dass klar wird, was genau eigentlich gemeint ist oder welche Besonderheiten ein „migrantischer/muslimischer Antisemitismus“ hat. Ist es eigentlich sinnvoll, einen „neuen Antisemitismus“ zu fassen? Und welche sicherheits- und bildungspolitischen Konsequenzen würden aus der Feststellung eines migrantischen Antisemitismus überhaupt gezogen?
Identitäten, Selbstverständnisse und Positionierungen sind immer vielfältig und können nicht auf das Merkmal „muslimisch/migrantisch“ beschränkt werden. Aus der Forschung zu Antisemitismus ist bekannt, dass sich antisemitische Einstellungen nicht geradlinig aus sozialen Merkmalen ableiten lassen. Weder sind Gebildete antisemitischer als Ungebildete, noch Reiche mehr als Arme. Wenn man sich vor Augen führt, wie heterogen das oft unter der Kollektiv-Bezeichnung „Muslime“ gefasste Milieu in Deutschland ist, dann ist zu fragen, ob das nicht auch für die religiöse Überzeugungen oder Positionierungen zutreffend ist.
Es gibt in Deutschland bisher keine repräsentativen Studien zu Antisemitismus unter Muslim_innen. Das heißt, dass weder hinreichend geklärt ist, ob Muslim_innen mehr oder weniger antisemitisch sind als Nicht-Muslim_innen. Noch ist geklärt, ob es überhaupt einen „muslimischen Antisemitismus“ gibt. Vorliegende Untersuchungen geben auch keine Auskunft über die besondere Beschaffenheit, Struktur oder über das Ausmaß des Antisemitismus. Wissenschaftliche Studien und Aufsätze kommen zudem zu ganz unterschiedlichen Interpretationen, die wiederum unterschiedliche Fragestellungen zum Ausgang haben: Handelt es sich bei antisemitischen Einstellungen unter Muslimen um einen „neuen Antisemitismus“? Oder sind ideologische Versatzstücke ein Re-Import des europäischen Antisemitismus bzw. christlichen Antijudaismus? Also „alter Wein in neuen Schläuchen“? Oder stellt er eine Verknüpfung aus islamistischer und europäischer Judenfeindschaft dar? Ist er sogar Bestandteil des Islam und des Korans? Ist der „neue Antisemitismus“ eine Tarnung für Israelfeindschaft oder eine Folgeerscheinung des Nahost-Konflikts und/oder möglicherweise Ausdruck der eigenen Betroffenheit? Oder sind antisemitische Einstellungen mit Zugehörigkeits- und Rassismuserfahrungen in Deutschland erklärbar? Das sind auch für die Bildungsarbeit wichtige Fragestellungen. Denn um nachhaltig gegen Antisemitismus vorzugehen, ist es wichtig, die Funktion hinter antisemitischen Deutungsmustern, Äußerungen oder Handlungen zu erkennen.
Das Feld Antisemitismus in muslimisch sozialisierten Milieus ist sowohl in der Wissenschaft und den Medien als auch unter Fachkräften der Bildungsarbeit sehr umkämpft - eine abschließende Klärung gibt es bislang nicht. Die Studien und Aufsätze, die sich mit diesem Phänomen beschäftigen, beziehen sich oftmals auf qualitative Erhebungsverfahren (Interviews) oder sind wegen zu geringer Fallzahlen nicht auf Muslim_innen in Deutschland generell übertragbar.
Waren es aber nicht überwiegend Muslim_innen, die sich im Sommer 2014 teils mobartig antisemitisch auf Gaza-Demonstrationen hervortaten? Ist das nicht schon Beleg genug, dass die größte Gefahr in Bezug auf Antisemitismus von Muslim_innen ausgeht?
Hier gilt es ebenfalls zu differenzieren: Auch wenn es viele Demonstrationen mit antisemitischen Parolen und Plakaten gab, an denen sich, neben Neonazis und sich als links verstehenden Menschen, in großer Zahl auch Personen mit Familienbezügen in die Türkei und die Konfliktregion beteiligten, waren nicht „die Muslime“ auf der Straße. Über 99,9 % der Personen in Deutschland, die sich als Muslim_innen verstehen, waren eben nicht an den antisemitischen Demonstrationen beteiligt. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu betonen, dass die antisemitischen Demonstrationen im Sommer 2014 kein Import von Antisemitismus waren, wie häufig unterstellt wird. Vielfach wurde behauptet, dass der Antisemitismus von muslimisch-sozialisierten und/oder muslimisch markierten Communities nichts mit einem europäischen Antisemitismus gemein habe. Der Antisemitismus dieser Communities sei vielmehr via arabischer und islamistischer Satelliten-TV-Sender nach Deutschland importiert worden und daher ausschließlich Ausdruck eines islamisierten Antisemitismus, der in keiner Interaktion mit der Lebensrealität in Deutschland stehe. Demosprüche wie „Hamas, Hamas – Juden ins Gas“ haben jedoch eben nicht ihren Bezugspunkt im Koran, sondern in der deutschen Geschichte. Die bei vielen beliebte Importthese hat für den nicht-muslimisch-sozialisierten Teil der deutschen Gesellschaft etwas sehr Verlockendes. Es bietet die Chance, den Antisemitismus auf eine eindeutig identifizierbare Gruppe abzuschieben und so einer Beschäftigung mit dem eigenen Antisemitismus aus dem Weg zu gehen. Für einen Teil der Gesellschaft bietet es zudem den willkommenen Anlass den eigenen Rassismus politisch zu legitimieren. Es gilt daher, die unterschiedlichen Manifestationen von Antisemitismus der letzten Jahre im öffentlichen Raum zu differenzieren, aber auch Gemeinsamkeiten und Verwobenheit herauszuarbeiten. Eine wichtige Gemeinsamkeit ist, dass es sich allesamt um antisemitische Ausdrucksformen der deutschen Gesellschaft handelt.
Und trotzdem, viele der schlimmen antisemitischen Parolen auf den Demonstrationen wurden weitestgehend von Personen mit familiärer Migrationserfahrung aus der Konfliktregion und den angrenzenden Gebieten gerufen. Doch auch hier gilt es wieder zu differenzieren, ohne zu bagatellisieren. Was ist der Grund für das Rufen dieser antisemitischen Parolen? Liegt er im Islam begründet? Waren es überwiegend Muslime, die das gerufen haben? Oder liegt es vor allem darin begründet, dass sie Familienbezüge in die Konfliktregion haben, und der Islam spielt hier keine oder nur eine sehr geringe Rolle?
Antisemitische Vorurteile und Klischees sind darüber hinaus in der Alltagskultur fest verankert. Sie sind auf Schulhöfen, in Gaststätten, bei Fußballspielen oder im Web 2.0 wie Youtube, Facebook und Instagram zu finden. Es gibt zahlreiche Straßennamen oder Schulen in Deutschland, die nach ausgewiesenen Antisemiten aus der Geschichte benannt sind. Stereotype und Klischees über Juden und Jüdinnen finden sich eben auch dort, wo man sie nicht erwarten würde: in Schulbüchern, seriösen Zeitungen oder in beliebten Fernsehsendungen. Judenfeindliche Klischees sind dort zwar kein durchgängiges Muster, aber sie können da, wo sie auftreten, die latent vorhandenen antisemitischen Vorurteile in der breiten Bevölkerung unterstützen und befördern. Antisemitismus ist ein Problem der Mitte der Gesellschaft und damit natürlich auch ein Problem von Muslim_innen.